Herausgegeben von Paul Kárpáti
Autoren: István Baka, Zsófia Balla, Károly Bari, Gábor Cyprian Csajka, Béla Cselényi, László Darvasi, Kinga Fabó, László Garaczi, Flóra Imre, Péter Kántor, Zsuzsa Kartal, András Ferenc Kovács, Endre Kukorelly, Imre Kurdi, Béla Markó, János Marno, Gáspár Nagy, Lajos Parti Nagy, György Petri, Éva Petrőczi, Judit Pinczési, Zsuzsa Rakovszky, Eszter Szakács, János Sziveri, Géza Szőcs, Zsuzsa Takács, Sándor Tatár, Imre Varga, Tibor Zalán
Kirsten Gutke Verlag / Köln ·
Frankfurt, 1996
ISBN: 3-928872-24-9
Preis: € 20,-
Titelbild: Piroska Szántó: „Öngyilkosok“
Die Nachkrieggenerationen: „Nachgeborene“, von denen sich Bertolt Brecht nachsichtiges Gedenken erhoffte, haben in der Generationsfolge schreibender Zeitgenossen ihr Wort auf entschieden eigene Weise vernehmen lassen – auch in Ungarn, zumal die Lyriker. Die ungarische Lyrik-Tradition hat eine im Kreise der ostmitteleuropäischen Literaturen spezifisch nuancierte Sicht- und Redeweise hervorgebracht, die die Spuren nicht zuletzt von den meist harten Herausforderungen des gewaltigen Experiments der „sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft“ trägt. Die „Nachgeborenen“ wurden auf eine besondere, existentielle Weise herausgefordert, entsprechend existentiell waren ihre Reaktionen – selbst im Rückzug, selbst nolens volens in der Isolation. Wie hätte sich die unmittelbar vorausgehende Dichtergeneration den Herausforderungen nicht stellen müssen, wo doch auf deren Kindheit noch die Kriegsjahre lasteten und sie 1956 bereits bewusst erlebt haben? Für sie stehen Zusza Takács (1938) und György Petri (1943). Einzelne Gedichte der Autoren wurden bereits in deutscher Übersetzung in Anthologien, Reihen, Zeitschriften und Lesungen, ja auch in ein, zwei selbständigen Bänden vorgestellt; es war an der Zeit, sie ohne Anspruch auf irgendwelche Vollständigkeit zu versammeln: von István Baka (1948-95) und Zsófia Balla (1949) alphabetisch bis Imre Varga (1950) und Tibor Zalán (1954) – 29 an der Zahl.
Wir blicken einst in die Vergangenheit ... im Herbst
Eines schönen Tags werde ich sagen:
meine Herren, ich kauf Ihnen die
missratenen Seufzer ab, aber ich fordere
alle Schlüssel der Stadt, denn
ich suche einen bis zur Unkenntlichkeit
geohrfeigten herbstlichen Monat, und ich
weiß nicht was sie antworten werden,
was Sie über diesen Knast wissen
wer den Schlüssel hat, wo der Wächter
sich rumtreibt, verduftet vermutlich
in Zeiten dauernder Intrigen
als Führungswechsel schon das Denken bestimmte –
aus dem Gefängnis der Tränen mit verblutenden
Blättern sich befreiende Herbstzeit
sich hat ausreichend Regen gesammelt und
gleitet mit tarzanischem Geschick
an Kanalröhren hinab, ins Netz,
das unter den Sohlen der Städte pulsierende,
wo selbst der Herrgott sich würde verirren
in Blut, Rattensirenen heulen
durch die Verkehrsschnellen des Kanalbetts
oben atmet die Stadt schon den Winter
möchte die Erstarrung streichen aus dem
demnächst geplanten Aufmarsch festgefro-
rener Schneehaufen, die Stadt lungert herum,
in ihrem Kopf pulsen Glocken Morgen
und Abend, damit sie die Tagesmigräne
nicht verpasse – welch ein Advent, welch eine
Weihnacht steht uns bevor! – es zittern
Bett und Nest der Tiere, auf des Verkehrs
terminologischem Kissenzipfel verirrt sich feder-
wärts des schwertbewehrtem Engels Flügelschlag;
vielleicht verlieren die Opfer den Verstand
ehe sie ein letztes Mal träumen vom
henkerstillen Nachmittag, ihre noch illegalen
Gedanken an der Leine ausführen am Ufer
des Stroms, einen Kuß geschickt zuwerfen
den Mülltonnen, die Auflösung
der verfügbaren Lebensversicherung verfügen
und sich die fürs Begräbnis nötigen
Papiere besorgen, warten,
in leidlicher Haltung auf den Auftritt,
auf sagbare banale Worte; Freiheit
klopft an die Tür und deklamiert für
mich, Unterstufe, grad zweite Klasse,
(wer geht denn nun in die Unterstufe,
ich oder die Freiheit? Das ist hier die Frage
mein Freund, das lässt sich nicht sagen
sagt die Geschichte und schickt Kälte,
sie aber rezitiert): dein Gesicht taucht in eine
Glasplatte
in ein noch unerschlossenes Gebiet
straffe Glätte benimmt sich meerhaft
so hoffnungslos, kalt und einsam,
wie dieser Morgen jetzt, voll Trauer um die Nacht
lösen lässt sich mir von den Schultern alle
Last, wecken selbst mit geringstem Lärm
Erfülltes Leben; ich lebe in einem totalen Nach-
auferstehungsmoment, hasche, renne herum,
koche wie Brei auf dem Herd –
(und dann noch solches): ein Poem, auf den Punkt
gebracht, könnte die Nacht, dein einstürzendes Heim
die
Wand deines verfallenen Hauses stützen vielleicht
ein solches Poem vermag vieles
ist gut für dies uns das, Hoffnung an aller Dinge
Statt
leuchtendes Brot in den Händen
Und Blut, wenn auch das versiegt. -
mehr abkaufen, selbst der Herbstmonat
wird seine Blätter ungehindert abwerfen, und
der Winter gar wird schneien auf alles, vor allem.
(1981)
Es gibt Länder, deren Literatur weltweites Ansehen genießt, deren Autoren in viele Sprachen der Welt übersetzt werden, und die manchmal sogar in den literarischen Kanon anderer Kulturkreise aufgenommen wird. Und dann gibt es Länder, deren Literatur, wie großartig und facettenreich sie auch sein mag, unerklärlicherweise unbekannt bleibt, deren Autoren eigenartigerweise nicht an das Licht der westlichen Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit geraten, unabhängig von ihrer Reputation im Heimatland.
Auf der Karte Europas dominieren die großen wirtschaftlichen, kulturellen Mächte, und alles andere verschwindet sozusagen im Nichts, in weißen Flecken auf einer Karte. Zentral- und Osteuropa mit seiner reichen kulturellen Tradition, seinen so unterschiedlichen Sprachen, besetzt einen nur vage zu definierenden Raum irgendwo zwischen dem Osten Deutschlands und dem Westen Russlands.
Nur in Krisenzeiten freilich folgen die Augen der Welt zumindest den politischen Veränderungen der Länder Zentral- und Osteuropas, so dass in diesen Zeiten die Möglichkeit besteht, die Aufmerksamkeit auch auf die Kultur und die Literatur dieser Länder zu lenken; dieses Interesse erlischt jedoch zumeist ebenso schnell, wie es aufgeflackert ist.
Der Reichtum der zentral- und osteuropäischen Dichtung scheint Millionen von Lesern verborgen zu bleiben. Um einen Teil dieser Dichtung an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen, legt der Gutke Verlag mit der vorliegenden Anthologie den ersten Band einer Reihe vor, die die Lyrik zeitgenössischer, vorerst weniger bekannter Autoren vorstellt. Wir sind uns bewusst, dass eine Sammlung wie diese lediglich eine von vielen möglichen Fensteröffnungen ist: mehr Lyrik, mehr Übersetzungen, mehr Bücher! Wir sind nicht nur stolz, sondern auch glücklich, dieses Buch in UNSEREN Händen halten zu können, da wir glauben, dass in der Lyrik die Möglichkeit liegt, Erfahrungen zu teilen; Erfahrungen, denen gerade durch die Lyrik unmittelbar Ausdruck verliehen wird.
Vielleicht kann der Prozeß des Teilnehmens und Übersetzens einige weiße Flecken Zentral- und Osteuropas mit Farbe füllen... wir fühlen uns verpflichtet, Farbtupfer auf die Karte zu setzen, da uns Lyrik als eine der besten Möglichkeiten erscheint, die Gedankenwelt, die Kultur, die Mentalität, die Herzen – kurz: die Menschen eines anderen Kulturkreises, einer anderen Nationalität, einer anderen Sprachengemeinschaft zu verstehen. Verstehen bedeutet Friede, Freude einander und miteinander, menschliche Wärme und menschliche Rechte.
Diese Werte möchten wir nie gefährdet sehen: unseren bescheidenen Beitrag hierzu halten Sie nun in IHREN Händen.